Gemeinsam gegen die stille Sucht

Medikamentenabhängige fallen nicht auf. Sie riechen nicht nach Alkohol und haben keine Einstichstellen an den Armen, sie sind weder laut noch aggressiv. Aber es sind viele: Schätzungen zufolge sind rund 1,9 Millionen Menschen in Deutschland abhängig von Medikamenten.

In Stadt und Landkreis Bayreuth gab es bislang keine Selbsthilfegruppe, die ausschließlich für Medikamentenabhängige da ist. Das ändert sich jetzt. Auf Initiative der Klinikum Bayreuth GmbH ist eine solche Selbsthilfegruppe entstanden. Der Paritätische Wohlfahrtsverband, die Suchtberatung der Diakonie, das Bezirkskrankenhaus in Bayreuth und die  Fachklinik  für suchtkranke Frauen Haus Immanuel in Hutschdorf unterstützen diese Initiative. Die Selbsthilfegruppe Medikamentenabhängigkeit, die sich an Betroffene und deren Angehörige wendet, triff sich jede Woche am Donnerstag ab 19 Uhr im Pfarrzentrum „Heilig Geist“, Hugenottenstraße 12. Das erste Treffen findet am Donnerstag, 18. Mai, statt.

Erste Selbsthilfegruppe nur für Medikamentenabhängige

„Wir wollen damit einen Informations- und Erfahrungsaustausch unter den Betroffenen und Angehörigen ermöglichen“, sagt Christine Seeber, betriebliche Suchtkrankenhelferin der Klinikum Bayreuth GmbH. „Medikamentenabhängige soll sich aussprechen, sich gegenseitig Hilfe geben und gemeinsam Wege der Problembewältigung finden können.“ Warum eine eigenständige Selbsthilfegruppe für Medikamentenabhängige notwendig ist? „In Bayreuth besteht durchaus ein gut ausgebautes System von Selbsthilfegruppen“ sagt Anita Busert, Sozialpädagogin in der Abteilung für Klinische Suchtmedizin der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Bezirkskrankenhaus. Diese Selbsthilfegruppen seien allerdings vorwiegend für Betroffene mit einer Alkoholabhängigkeit konzipiert. „Viele Medikamentenabhängige und vor allem viele Frauen haben in der Vergangenheit darauf hingewiesen, dass sie sich in diesen Gruppen nicht gut aufgehoben fühlten.“  Mit der Gründung der Selbsthilfegruppe Medikamentenabhängigkeit wird also eine Lücke geschlossen.

Der Weg zur Behandlung ist weit

Nach wie vor sind überwiegend Frauen von einer Medikamentenabhängigkeit betroffen, Altersgrenzen gibt es kaum. „In der Regel finden Medikamentenabhängige erst sehr spät den Weg in die Behandlung“, sagt Gotthard Lehner, Leiter der Fachklinik Haus Immanuel in Hutschdorf.  Von den Patientinnen, die im Haus Immanuel behandelt werden, sind etwa fünf bis zehn Prozent auch mit einer Medikamentenabhängigkeit belastet. Diese Sucht fällt häufig erst nach langer Verschreibungszeit durch den Arzt auf. Oder dann, wenn sie als sogenannter Beikonsum auftritt. Wenn also zum Beispiel Alkohol zur Verstärkung der Medikamentenwirkung eingesetzt wird oder eine Suchtverlagerung nach Drogenabhängigkeit stattfindet. „In der Behandlung haben Patientinnen ein starkes Bedürfnis, sich von alkoholabhängigen  Frauen abzugrenzen. Es besteht der Wunsch nach speziellen Angeboten“, sagt Lehner. Die Fachklinik Immanuel bietet solche spezielle Angebote an. Dass jetzt auch eine eigenständige Selbsthilfegruppe entsteht, begrüßt der Leiter der Fachklinik ausdrücklich.

Die verschriebene Abhängigkeit

Das tut auch Eva Kluge von der  Suchtberatung des Diakonischen Werks Bayreuth. „Leider finden nur wenige Menschen mit Medikamentenabhängigkeit den Weg zu uns in die Beratungsstelle oder in das Suchthilfesystem, obwohl die Zahl der Betroffenen sehr hoch ist“, sagt sie. „Daher freuen wir uns, wenn die Thematik in die Öffentlichkeit gerückt wird und wenn es nun ein neues Hilfsangebot für Betroffene gibt.“ Medikamentenabhängigkeit wird in der Suchtberatung der Diakonie deutlich seltener angesprochen  als andere Abhängigkeiten. „Sie wird daher auch häufig die stille Sucht genannt“, sagt Eva Kluge . Viele Betroffene merken selbst über lange Zeit nicht, dass sie abhängig geworden sind, da es sich ja meist um eine verschriebene und somit legitimierte Abhängigkeit handelt. Erst wenn es um das Absetzen des Medikamentes oder um eine Dosissteigerung  geht, merken sie, dass es ihnen nicht mehr  gut damit geht.

Hilfe zur Selbsthilfe

Die Selbsthilfeunterstützungsstelle für Bayreuth Stadt und Landkreis kennt gut 110 Selbsthilfegruppen zu den unterschiedlichsten Themenbereichen. Und dennoch sind damit noch längst nicht alle Themen der gesundheits- und sozialorientierten Selbsthilfe abgedeckt. „Mit der nun zu gründenden Selbsthilfegruppe Medikamentenabhängigkeit wird ein solches Thema aufgegriffen“, sagt Claudia Friedel von der Selbsthilfeunterstützungsstelle Bayreuth . Die Selbsthilfe wird häufig als vierte Säule der medizinischen Versorgung bezeichnet.  „Sie ist neben der ambulanten und der stationären Versorgung sowie dem Bereich der Rehabilitation wichtiger Bestandteil unseres Gesundheitssystems.“ In Abgrenzung zu den anderen Bereichen der Gesundheitsversorgung gibt es hier keine professionelle oder therapeutische Leitung. Dieses sind die Grundlagen aller Selbsthilfegruppen. Jeder Selbsthilfegruppe, die einen gesundheitsorientierten Ansatz hat und den dargestellten Grundsätzen folgt, steht es offen, eine Förderung nach den unterschiedlichen gesetzlichen Grundlagen zu beantragen. „Diese Möglichkeit zeigt nochmals die Bedeutung der Selbsthilfe auf.“

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Die neue Selbsthilfegruppe ist eine Team-Leistung: Die Initiative von Christine Seeber von der Klinikum Bayreuth GmbH (vordere Reihe mitte) unterstützen Gotthard Lehner, Leiter der Fachklinik Haus Immanuel in Hutschdorf, Walter von Narcotics Anonymus, Irene von der Weth (Geschäftsführerin Paritätischer Wohlfahrtsverband Oberfranken - hinter Reihe von links), Eva Kluge (Suchtberatung Diakonie) und Claudia Friedel (Selbsthilfeunterstützungsstelle).